Zur Ausstellung von Gerhard Berger
„Die Sinne deformieren, aber der Geist formt“
Georges Braque
Bei meinen Besuchen im Atelier des Künstlers Gerhard Berger hatte ich die Gelegenheit seine konzeptionelle Vorgehensweise bei der Entwicklung seiner Bilder zu beobachten.
Gerhard Berger stellt das Abenteuer des Nachdenkens über den maßgeblichen Bildinhalt der malerischen Ausführung voran. Seine Arbeit ist eine sehr konsequente Auseinandersetzung mit der ersten Grundidee eines Bildes.
Aus Skizzen und Collagen entstehen Bildentwürfe. Variationen eines Bildes stehen als kleinformatige Arbeiten nebeneinander, diese werden übermalt, wieder variiert und geben ihm so einen ersten Überblick. Sodann legt er die wesentlichen Impressionen des zukünftigen Bildes sorgfältig fest, bevor er an die Leinwand tritt.
Diese kleinen Arbeiten bleiben als eigenständige Werke, die mit ihren definierten Änderungen eindrücklich den Werdegang eines Bildes dokumentieren.
Durch sein sorgsames Herantasten erschließt sich Gerhard Berger seinen Weg als Ziel zum konkreten Bild.
Es sind monochrome Linien, schriftzugartige Zeichen auf und neben weichen Farbflächen, die wie kubistische Graffitis die Kompositionen bestimmen. Grundformen und Bezüge werden wiederholt, reduziert und neu bestimmt. Der Künstler baut so langsam das gewünschte Spannungsverhältnis auf. Es entstehen Raumverschiebungen und Vielschichtigkeiten, mehrere Deutungen sind möglich. Die Bilder erschließen sich nicht sofort; der Betrachter muss sich auf die Bilder einlassen, um den Inhalt zu erfahren.
In seiner Malerei geht es Gerhard Berger immer um die Möglichkeit vielfacher Lesbarkeit seiner Werke.
Nicht künstlerischer Aktionismus und spontane Gesten bestimmen den Aufbau seiner Arbeiten, sondern die geordnete Auswahl und Kompositionen vereinen sie zu einem Ganzen.
Vielen Bildern liegen menschliche Formen und Gestalten zugrunde, werden aber in der Bildentwicklung immer mehr abstrahiert und sind nur noch rudimentär zu erkennen. Das menschliche Maß aber bleibt bestehen und gibt den Rhythmus der Bilder vor. Auch findet und verwendet er Symbole und Zeichen als eigenständige Formensprache, die wiederholt in seinen Arbeiten auftauchen. So verbinden sich die Bilder auch untereinander und schreiben eine Geschichte fort.
Auf seinen Bildern korrespondiert die Farbe als Fläche und Raumklang mit der fast kalligraphischen Zeichnung. Der Blick des Betrachters wandert zwischen dem bildhaft Räumlichen und den zu lesenden Skizzen hin und her. Lyrisch abstrakte Formen und mythische Chiffren bestimmen den Feinheitsgrad der Komposition und lassen uns auf Spurensuche gehen.
Die Kunst Gerhard Bergers bringt Linie, Raum und Farbe mit dem Faktor Zeit zusammen. Der Betrachter muss versuchen die neu entstehenden Kräfte und Werteverteilungen miteinander in Einklang zu bringen. Der Künstler hat dies während seiner Arbeit bereits getan.
Zahlreiche Bilder bleiben ohne Titel, Berger sagt, er befürchte, die Vielschichtigkeit seiner Arbeit gehe mit der bestimmenden Festlegung eines Titels verloren.
Nicht selten werden die Werke Gerhard Bergers mit Picassos und Braques Kubismus in Verbindung gebracht. Der Künstler lehnt dies gar nicht ab, er betrachtet seine Arbeit vielmehr als eine Fortführung dieser – mit dem Beginn des Krieges 1914 – beendeten Stilrichtung.
Michael Radowitz
Fünf Zehen verraten die Figur. Ein Füßchen taucht aus dem Liniengewirr auf der Leinwand auf, gibt ihm Bedeutung: Wo ein Füßchen ist, da muss ein Bein sich anschließen, und wenn hier das Bein zu erkennen ist, müssten da Arme und Hände, dort der Kopf zu sehen sein. Das Gewirr erschließt sich, formiert sich, scheint Sinn zu ergeben – und leistet zähen Widerstand. Zwei rechteckige Augen? Eine Nase, die das Kinn kreuzt und bald die ganze so verführerisch plausible Formation verlässt? Mäandernde Linien, hektische Ecken: Das Auge, gewohnt, Information zu sammeln, Formen zusammenzufügen, Fehlstellen zu ergänzen – hier geht es irr: Schon entzieht sich die Figur, geht unter. Allein das Füßchen bleibt. Wo war der Sinn?
Gerhard Berger hat sich über die fünf Zehen geärgert. Zu offensichtlich, sagt er, zu platt. Sie weckten falsche Erwartungen. Nichts soll hier zu erkennen sein, kein Ding habe er vor Augen gehabt, kein Abbild wolle er liefern. Das Füßchen sei einfach passiert; einfach aus der Hand geflossen sei es ihm – aber genau das ist auch schon genug, um bleiben zu dürfen: Im Prozess des Zeichnens ergibt sich die Existenzberechtigung. Alles andere – Wegstreichen etwa, Korrektur – verletze die Regeln. Wie er zeichne? So sagt Berger und lässt den Unterarm pendeln, ganz locker. Er schaut nicht mal hin.
Farbige Flächen liegen unter dem Linienmuster. Liegen? Unter? Muster? Wie eine scharfe Kante grenzt Linie Fläche ein, auf gleicher Ebene, legt sich dann obenauf, drückt Fläche also nach hinten. Gleichzeitig schiebt Fläche sich vor Linie, denn so stachelt Berger noch die Verwirrung des Betrachters auf: Dunkle Farben tendieren bekanntlich zum Hintergrund, helle drängen nach vorn. Dunkelblau ist die Linie, in hellem Orange strahlt die Fläche. Vorn und Hinten, Bedeutung, Andeutung und automatische Geste: Will hier einer mit den Gewohnheiten der Wahrnehmung seinen Schabernack treiben? Die Wahrnehmung als leichtes Opfer der Manipulation bloßstellen? Das hatten wir doch schon. Zur Biografie des Künstlers, zu den Erfahrungen seines nun 75 Jahre währenden Lebens mit schneller und falscher Wahrnehmung, dies nebenbei, werden noch ein, zwei Bemerkungen zu machen sein.
Denken und Tun seien eins, sagt der Künstler. Im Idealfall sei das jedenfalls so, und die Beiläufigkeit des pendelnden Unterarms zeigte schon ein hohes Maß an Routine, dem Tun eine Autonomie zu lassen, die es dem Denken gleichstellt. Wenn es ihm so gelinge, den Automatismus von Sehen und Erkennenwollen in seinen ganz klassisch mit Öl auf Leinwand gemalten Studien zu stören, Räume in Bewegung zu versetzen, das Sehen zu verlangsamen, es zum Prozess zu dehnen – dann bekomme das Bild neben räumlicher Tiefe eine nächste, eine vierte Dimension: Zeit. Zeit beschäftige ihn sehr, sagt Berger. Um so mehr, je knapper sie ihm werde.
Picasso war einer, der ihm Anstöße gegeben hat. Das Füßchen, das Bein, die Augen, die Nase: Könnte sein, dass sie aus irgendeiner kubistischen Analyse des Spaniers auf Bergers Bilder durchgeschlagen sind. Kein Problem, sagt der Maler, jede Kunst brauche ihre Anlässe. Die Erfassung unterschiedlicher Perspektiven, unterschiedlicher Zeitpunkte in einem Bild, die Fragestellungen des analytischen Kubismus eben – sie haben ihn und seine Weggenossen (Zeit-Genossen!) umgetrieben, damals, in den 1970er Jahren, als er junger Professor an der Münchner Akademie war und die neuen Medien neue Herausforderungen an die Kunst stellten, als Computer und Monitore für die Hochschule angeschafft wurden und die Bilder mehr lernten als nur das Laufen. Picasso und Nam June Paik, die simultane Erfassung unterschiedlicher Augenblicke auf der Leinwand und die zeitliche Verschiebung gleicher Bildinhalte auf den Bildschirm-Installationen des Koreaners.
Der Rhythmus habe ihn angesteckt, sagt Berger, die Erkenntnis, dass der Prozess der Entstehung wie der Erschließung wichtiger sei, mehr Aussagekraft habe als das Resultat. Aktionskunst, künstlerisches Handeln vor künstlerischem Sein, entwickeln statt konstatieren, die Einbindung der Kunst in soziale Zusammenhänge und Abläufe – es waren bewegte Zeiten an der Akademie. Zeiten, in denen in der Kunst ein Optimismus herrschte, der sich nicht auf Lösungen der Frage nach wirtschaftlichem Erfolg beschränkte. Acht U-Bahn-Stationen in München tragen Bergers künstlerische Handschrift. Sie sollten zu Galerien mit wechselnden Ausstellungen werden – da war er, der Gedanke an Wandel und Prozess, an Interaktion und Bewegung! Es blieb dann, wie in der Machtlfingerstrasse, bei der einen Schau des Kollegen Rupprecht Geiger. Sie ist heute noch zu sehen.
Die Zeiten waren ja auch auf Enttäuschung angelegt. Berger staunte damals, wie schnell der Wunsch nach Wandel wieder erstarrte. Statuarik, Status, Statik, konstatieren, Stillstand: Aus war’s mit der Bewegung, mit Offenheit und Flexibilität. Was blieb, war der Kampf um Standpunkte, um Positionen und Posten. Und bei Gerhard Berger: Zweifel, Misstrauen, beinahe Ekel gegenüber jeder Ideologie. Er hatte früher schon solche Erfahrung gemacht, gleich nach Kriegsende, als sie ihn, zwölf Jahre alt, mit seiner Familie fortgejagt haben: Der Vater war zwar als kleines Kind schon in die Schweiz gekommen, aber er hatte einen deutschen Pass gehabt. „Hier wohnt auch noch ein Deutscher“, hatten die netten Nachbarn an das Haus der Bergers in Solothurn geschrieben.
Er spricht nicht gern darüber. Ein Gutes an Zeit ist wohl auch, dass Dinge darin verschwinden können. Aber er ahnte, nach den Erfahrungen von 1945 und 1968, dass er eigene Wege und eigene Formulierungen finden musste. Inhalte ergeben sich dabei so kalkuliert und so zufällig wie das perfide und delikate, leichtfüßige, unschuldige und hinterhältige Spiel der Linien und Flächen und Farben: Dreier-Konstellationen sind da auszumachen, Vater, Sohn und Heiliger Geist aus der christlichen Glaubens- und Bilderwelt, eine bewahrende Instanz, eine dynamische und das geistig Umfassende, wie sie allen Religionen aller Zeiten zugrunde liegen. Schatten und hell umstrahlte Silhouetten, der Mensch liegt ihnen zu Füßen, schwach und gequält. Berger denkt über sein Leben nach, über verfließende Lebenszeit. Aber darum geht es nicht. Nicht in erster Linie jedenfalls und nicht für den Betrachter. Für den und in erster Linie geht es um den Prozess von Wahrnehmung und Deutung. Um ein Abbild von Zeit. Es geht ums Lesen.
Zu dumm nur, klagt der Maler, dass der Kollege Anselm Kiefer den Begriff „Lesebilder“ für seine inhaltsschweren Bilder vereinnahmt habe, als er kürzlich mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. „Lesebilder“ – das hätte Gerhard Berger auch für seine Bilder gefallen. Nicht, weil so viel darin zu lesen wäre, sondern weil das Lesen selbst, das Sehen und Formieren ihr Thema ist.